LG Kassel, Reiserücktrittsversicherung: unerwartete schwere Erkrankung – grip-paler Infekt -, Urteil vom 02.11.2021, Az. 5 O 459/21

Im Falle der Geltendmachung von Ansprüchen aus einer Reiserücktrittsversicherung geht es immer wieder um die Frage des Vorliegens einer unerwarteten schweren Erkrankung.

Die Kammer hat hierzu noch einmal deutlich herausgearbeitet, unter welchen Voraussetzungen hiervon auszugehen ist. Sie führt hierzu unter Bezugnahme auf Rechtsprechung und Literatur zutreffend aus:

Unter einer Erkrankung versteht man eine anormale physische oder psychische Verfassung, welche in eine nicht ganz unerhebliche Beeinträchtigung der körperlichen respektive geistigen Betätigungsmöglichkeit mündet (vgl. Staudinger in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 41 Reisegepäck-, Reiserücktrittskosten- und Reisekrankenversicherung, Rn. 102). Eine Erkrankung ist schwer, wenn die Erkrankung dergestalt ist, dass der Reiseantritt aus objektiver Sicht, d.h. aus Sicht eines verständigen Dritten, nicht mehr zumutbar wäre (vgl. OLG München, VersR 87, 1032; OLG Frankfurt a.M., NJW-RR 2010, 1620; OLG Koblenz VersR 2010, 905; LG München I, r+s 2005, 253 sowie Teil D AVB als Beispiel für schwere Erkrankungen: „die attestierte gesundheitliche Beeinträchtigung ist so stark, dass der Versicherte aufgrund von Symptomen und Beschwerden der Erkrankung die geplante Hauptreiseleistung nicht wahrnehmen kann“). Dabei reicht es nicht aus, dass im Vorfeld der Reise im versicherten Zeitraum irgendwann eine Unzumutbarkeit eines Reiseantritts auftritt, die sich nicht bis zum planmäßigen Reiseantritt verlängern lässt, etwa infolge einer akuten vorübergehenden Erkrankung, die bis zum Reiseantritt wieder auskuriert ist (OLG Frankfurt a.M. a.a.O.). Allein der von einem Arzt geäußerte Verdacht auf eine schwere Erkrankung, der zum Anlass genommen wird, eine Reise zu stornieren, sich im Nachgang aber nicht bestätigt, stellt kein versichertes Ereignis dar; auch stellen Krankheiten, die nicht einmal einer ärztlichen Behandlung bedürfen, keine schweren Erkrankungen dar (vgl. Steinbeck in: Höra, Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, § 30 Reiseversicherung, Rn. 45). Ferner fehlt es an einer schweren Erkrankung, wenn sich Beschwerden durch eine persönlich und finanziell zumutbare Therapie oder entsprechende eigene Verhaltensweisen zumindest soweit lindern lassen, dass der Reiseantritt wieder möglich erscheint (vgl. Looschelders/Pohlmann/Benzenberg, Anh. N Rn. 106; Prölss/Martin/Knappmann Ziff. 2 VB-Reiserücktritt 2008 Rn. 4; LG Kleve, r+s 1998, 254).“

Das Gericht führt weiter aus, dass ein grippaler Infekt nicht ohne weiteres eine unerwartete schwere Erkrankung darstelle. Maßgeblich sei, dass es sich bei einem grippalen Infekt nur um eine vorübergehende Erkrankung handele, die durch verschiedene Erkältungsviren ausgelöst werde, und eine solche, deren Beschwerden sich durch zumutbare Therapien oder eigene Verhaltensweisen jedenfalls soweit lindern lasse, dass der Reiseantritt wieder möglich erscheine. Nach Auffassung der Kammer ist darzutun und unter Beweis zu stellen, dass eine unerwartete schwere Erkrankung diagnostiziert worden sein müsse und dass diese bis zum Reiseantritt nicht bereits wieder auskuriert war bzw. aus maßgeblicher objektiver Sicht eines verständigen Dritten auskuriert sein könnte. Vorliegend hatten zum Zeitpunkt der Anamnese schon drei Tage lang Infektanzeichen vorgelegen. Die dokumentierte Behandlung beschränkte sich auf die Behandlung mit Paracetamol. Hierzu führt die Kammer sodann aus:

Bei einer solchen Therapie (die Einnahme von Schmerzmittel bei Auftreten der Symptomatik) sowie entsprechender Verhaltensweisen (beispielsweise Bettruhe) handelt es sich ohne weiteres um zumutbare Verhaltensweisen, durch die die bei einem grippalen Infekt auftretenden Beschwerden – die, losgelöst von dem Umstand, dass sich dem Attest vom 17.09.2020 ohnehin nur eine leicht erhöhte Temperatur von 38,6 Grad entnehmen lässt, von ihrem Schweregrad bereits definitorisch von einer (schwerwiegenderen) Grippe gleichzusetzen (vgl. so auch AG Hamburg, NVersZ 2002, 465), sondern die typischen Beschwerden in der Regel eher schwächer ausgeprägt sind – sich jedenfalls soweit lindern lassen, dass die erst eine Woche später erfolgende Hauptreiseleistung wieder möglich erscheint.

Entgegen anderslautender Entscheidungen wird in dieser Entscheidung erfreulicherweise herausgearbeitet, dass es nicht nur auf das subjektive Empfinden eines Versicherungsnehmers ankommen kann, sondern auch auf die objektive Sicht eines objektiven Dritten hinsichtlich des Auskurierens einer Erkrankung ankommt bzw. ankommen muss.

U.S.